Gegenwart und Zukunft digitaler Zwillinge

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Cristina De Luca -

August 21, 2023

Die Ära der digitalen Zwillinge birgt das Potenzial, eine Revolution in der Industrie herbeizuführen – und einen maßgeblichen Einfluss auf die zukünftige Entwicklung von Fertigungsprozessen und gesellschaftlichen Strukturen auszuüben. Die Bandbreite an potenziellen Anwendungen ist beachtlich und bietet Möglichkeiten zur Optimierung von Prozessen, Verfeinerung von Produkten sowie Etablierung nachhaltigerer und hochgradig effizienter Systeme.

Gemäß den Prognosen von Deloitte wird der weltweite Markt jährlich um 38 % anwachsen und bis zum Jahr 2031 eine Marktbewertung von 16 Milliarden US-Dollar erreichen. Der Digital Twin Market Report 2023-2027 von IOT unterstreicht das dynamische Wachstum des Marktes, welcher bereits zwischen 2020 und 2022 um 71 % gestiegen ist. Gegenwärtig sind rund 63 % der Unternehmen entweder mit der Entwicklung oder der Planung eines eigenen digitalen Zwillings beschäftigt.

Die Triebkräfte hinter diesem anhaltenden Wachstum sind namhafte Technologiegiganten, die erhebliche Investitionen in die Entwicklung der digitalen Zwillinge aufbringen. Ziel ist, die industrielle Nutzung ihrer hochentwickelten Cloud-Dienstleistungen zu intensivieren. Ein Beispiel hierfür bietet die GTC-Konferenz von NVIDIA im September 2022, auf der technologische Fortschritte im Bereich der digitalen Zwillinge als Teil der Omniverse-Plattform präsentiert wurden. Auch die ersten Anwender dieser Technologien waren Thema, darunter namhafte Größen der Fertigungsindustrie wie Lockheed Martin und Jaguar Land Rover.

Unter den Start-ups haben sich – durch mehrere bemerkenswerte Finanzierungen auf dem Markt für Gebäudeüberwachung – intelligente Immobilien als eines der wichtigsten Einsatzgebiete für digitale Zwillings-Software herauskristallisiert. Beispielsweise trugen die europäischen Start-ups Disperse und Modulous in der zweiten Jahreshälfte 2022 etwa 16,0 und 12,0 Millionen US-Dollar zusammen. Beide dieser Jungunternehmen konzentrieren sich auf Gebäudeanalysen und digitale Zwillinge für Baustellen. Cupix, ein weiteres Unternehmen, das sich auf ähnliche Dienstleistungen spezialisiert hat, sicherte sich im selben Zeitraum 13,7 Millionen US-Dollar in einer Serie-C-Runde. Im März 2023 sammelte VEERUM, ein Unternehmen für digitales Infrastrukturmanagement, 9,3 Millionen US-Dollar in einer Late-Stage-Risikokapitalrunde.

Auf der Anwenderseite nutzen immer mehr Unternehmen in anlagenintensiven Sektoren digitale Zwillinge, um die Produktion zu revolutionieren – wie beispielsweise in der Öl- und Gasindustrie, der Luft- und Raumfahrt, der Automobilindustrie und der Fertigungsindustrie. Neben dem Industriesektor werden digitale Zwillinge auch in den Unternehmensbereichen Einzelhandel, Gesundheitswesen und im Kontext intelligenter Städte erprobt.

Welche Ergebnisse erhoffen sich die Unternehmen? Laut jüngsten Untersuchungen von McKinsey sollen digitale Zwillinge dazu beitragen, die Effizienz zu steigern, Kosten zu senken und die Produktentwicklung zu verbessern. Die Technologie beschleunigt die Produkt- und Prozessentwicklung, optimiert die Leistung und ermöglicht eine vorausschauende Wartung.

Die Ansicht von Pionierunternehmen, die diese Technologie nutzen, lauten wie folgt:

  • Digitale Zwillinge bieten eine risikofreie Produktentwicklungsumgebung, die es Design- und Ingenieurteams ermöglicht, mehr Gestaltungsoptionen zu erforschen – ohne dass die Kosten für die Herstellung und Prüfung physischer Prototypen anfallen.

  • Digitale Zwillinge verbessern die Prüfung und Validierung, da sie neue Lösungen in einer Vielzahl realistischer Szenarien bewerten, einschließlich ungewöhnlicher und extremer Betriebsbedingungen.

  • Digitale Zwillinge bieten tiefere Einblicke in das Produktverhalten. Ingenieure können so digitale Zwillingsmodelle verwenden, um den Zustand eines beliebigen Teils des Systems jederzeit zu überwachen und komplexe Interaktionen zwischen Produktelementen zu verfolgen.

  • Digitale Zwillinge ermöglichen es, reale Daten in Produktverbesserungen einfließen zu lassen. Sie simulieren die Auswirkungen von vorgeschlagenen Konstruktionsänderungen anhand von Daten, die von Produkten im Praxiseinsatz gesammelt wurden.

Um das breite Spektrum möglicher Anwendungsfälle für digitale Zwillinge besser zu verstehen, wurde ein potenzieller Klassifizierungsansatz unter der Bezeichnung „5 PS“ entwickelt. Jeff Winter, Senior Director of Industrial Strategy and Manufacturing bei Hitachi Solutions, übernahm diesen für fast alle Anwendungsfälle industrieller digitaler Zwillinge:

  • Part Digital Twin: Digitale Darstellung von Komponenten oder Einzelteilen, in der Regel zum Verständnis der physikalischen, mechanischen und elektrischen Eigenschaften eines Bauteils. Auf diese Weise können Unternehmen die Leistung und Integrität eines bestimmten Teils überwachen, analysieren und vorhersagen, um die Wartungspläne zu optimieren und demnach die Lebensdauer zu verlängern.

  • Product Digital Twin: Digitale Darstellung der Interoperabilität von Komponenten oder Bauteilen, die als Teil des Produkts zusammenarbeiten. Dies ermöglicht es Unternehmen, das Produktverhalten unter verschiedenen Bedingungen zu simulieren und zu testen. Dadurch wird der Entwurf verbessert, die Qualität sichergestellt und die Markteinführung beschleunigt.

  • Plant Digital Twin: Digitale Darstellung einer Anlage, einer Einrichtung oder eines Systems, um zu verstehen, wie die Anlagen auf betrieblicher Ebene zusammenarbeiten. So können Unternehmen die betriebliche Effizienz verbessern, Ausfallzeiten reduzieren und Produktionsprozesse durch Echtzeiteinblicke und vorausschauende Analysen optimieren.

  • Process Digital Twin: Digitale Darstellung eines bestimmten Prozesses oder Arbeitsablaufs in einem System oder einer Anlage. Dies hilft Unternehmen, Prozesse zu verfeinern und zu optimieren, Ineffizienzen zu erkennen und einen reibungsloseren, kostengünstigeren Betrieb zu gewährleisten.

  • Person Digital Twin: Digitale Darstellung einer Person zur Erfassung ihrer Bewegungen, Gewohnheiten, Interaktionen, Fähigkeiten, Kenntnisse und Vorlieben. Dies unterstützt Unternehmen dabei, Einblicke in Arbeitsabläufe, Ermüdungsmuster und Sicherheitsprobleme zu erhalten und so eine höhere Produktivität zu gewährleisten.

Da sich die Technologie stets weiterentwickelt und dabei immer ausgefeilter wird, können Unternehmen mit noch mehr Möglichkeiten zur Optimierung, Personalisierung und Innovation rechnen.

Ein Blick in die Zukunft lässt mehrere Trends für digitale Zwillinge vermuten, die die Entwicklung und Anwendung prägen werden. Einer der wichtigsten Trends ist die stärkere Integration der digitalen Zwillingstechnologie mit anderen Industrie 4.0-Technologien, wie künstliche Intelligenz und das Internet der Dinge.

Durch den Einsatz der digitalen Zwillingstechnologie können Unternehmen Ineffizienzen in ihren Prozessen erkennen und gezielte Verbesserungen vornehmen. So nutzte Siemens beispielsweise diese Technologie, um die Produktion von Windkraftanlagen zu optimieren. Durch die Simulation verschiedener Produktionsszenarien konnte das Unternehmen die Produkteffizienz so um ganze 10 % steigern. Die Ergebnisse vom Einsatz der digitalen Zwillinge sind beachtlich: Unternehmen berichten von höherer Effizienz, geringeren Kosten, gesteigerter Qualität, besserem Kundenservice und mehr Sicherheit. Durch den Einsatz der Technologie können sich Unternehmen einen Wettbewerbsvorteil in ihrem Sektor verschaffen und ihr Endergebnis verbessern. Die Integration wird noch raffiniertere Simulationen und bessere Einblicke in die betrieblichen Leistungen ermöglichen, was wiederum zu noch effizienteren und effektiveren Prozessen führen wird.

Ein weiterer wichtiger Trend ist der zunehmende Einsatz der digitalen Zwillingstechnologie im Gesundheitswesen: Mit ihrer Fähigkeit, das Verhalten von Organen zu simulieren und das Fortschreiten von Krankheiten vorherzusagen, hat die Technologie ein enormes Potenzial für die Arzneimittelentwicklung sowie die personalisierte Medizin. Mit der Weiterentwicklung digitaler Zwillinge ist gleichzeitig mit einer umfassenderen Verbreitung im Gesundheitswesen zu rechnen – vielleicht sogar mit der Erstellung digitaler Zwillinge für einzelne Patienten zur Unterstützung von Diagnose und Behandlung.

Über den Gesundheitsbereich hinaus dürfte die Technologie des digitalen Zwillings auch eine wichtige Rolle bei der Entwicklung intelligenter Städte spielen. Durch die Erstellung digitaler Zwillinge ganzer Städte könnten Stadtplaner die Auswirkungen verschiedener politischer Entscheidungen simulieren und fundiertere Entscheidungen über die Zuweisung von Ressourcen treffen. Auf diese Weise würden die Städte effizienter und nachhaltiger werden sowie die Lebensqualität ihrer Bewohner verbessern.

Ein weiterer vielversprechender Trend, der in der zukünftigen Entwicklung zu erwarten ist, sind virtuelle Zwillinge. Mit der fortlaufenden Verfeinerung der digitalen Zwillingstechnologie könnte es in absehbarer Zeit möglich sein, virtuelle Repräsentationen physischer Objekte zu schaffen, die diese letztlich ersetzen könnten. Das könnte sich insbesondere auf Sektoren wie die Luft- und Raumfahrt sowie die Automobilindustrie bedeutsam auswirken, da die Herstellung von Prototypen in diesen Sektoren mit erheblichen Kosten verbunden ist.

Ein anderer wichtiger Innovationsbereich ist die Integration der digitalen Zwillingstechnologie mit anderen fortschrittlichen Technologien, wie maschinelles Lernen, künstliche Intelligenz und Blockchain. Durch die Nutzung des maschinellen Lernens sowie der künstlichen Intelligenz könnten digitale Zwillinge trainiert werden, um genauere Vorhersagen zu treffen und Muster in großen Datensätzen zu erkennen. Dies würde es Unternehmen ermöglichen, ihre Prozesse weiter zu optimieren, Abfallprodukte zu reduzieren, die Effizienz zu steigern und die Qualität ihrer Produkte zu verbessern.

Mit zunehmender Verbreitung des digitalen Zwillings werden Sicherheit und Datenschutz stärker in den Mittelpunkt rücken. Unternehmen müssen sicherstellen, dass ihre digitalen Zwillinge vor Cyberangriffen geschützt sind und dass alle gesammelten Daten sicher und vertraulich behandelt werden. Dies wird eine große Herausforderung sein, die es jedoch zu bewältigen gilt: Nur so kann die Technologie von der Industrie und der Gesellschaft vollständig angenommen werden. Die Zukunft der digitalen Zwillinge sieht rosig aus – und bietet unzählige Möglichkeiten für Entwicklung und Anwendung.

In diesem Zusammenhang kann auch die Blockchain-Technologie bei der Entwicklung digitaler Zwillinge eine wichtige Rolle spielen – insbesondere, wenn es um die Gewährleistung von Datensicherheit und Datenschutz geht. Durch den Einsatz von Blockchain zur Entwicklung sicherer, dezentraler Netzwerke für die Speicherung und den Austausch von Daten können Unternehmen sicher sein, dass ihre digitalen Zwillingsdaten vor Cyberangriffen und unbefugtem Zugriff geschützt sind.

Mit der stetigen Integration fortschrittlicher Technologien in die digitalen Zwillinge können wir erwarten, dass die präziseren Simulationen und tieferen Einblicke in die Betriebsleistung mehrere Vorteile mit sich bringen: (1) die Steigerung der Effizienz und Effektivität von Prozessen, (2) die Entwicklung hochwertiger Produkte und letztlich (3) die Förderung einer nachhaltigeren Zukunft für Industrie und Gesellschaft.

Die Wahrscheinlichkeit ist also hoch, dass in den kommenden Jahren vor allem die Unternehmen große Erfolge verzeichnen werden, die Schritt mit diesen Entwicklungen halten – und in die Technologie der digitalen Zwillinge investieren.